78 105 / Isang Yun 1917–1995 / 2022
Ausstellung von Oliver Siebeck im Yun-Haus Berlin

Ausstellung verlängert bis 29. Januar 2023.

Geöffnet Sonntag, 16.10, 6.11. sowie 27.11.2022 [u.A.w.g.]
Zudem auf Vereinbarung per e-Mail an:
Internationale Isang Yun Gesellschaft info@yun-gesellschaft.de

Yun-Haus Berlin · Sakrower Kirchweg 47 · 14089 Berlin-Kladow

Eröffnung Sonntag, 25. September 2022, 17:30 Uhr
Zuvor um 16 Uhr Konzert
Daniel Seroussi [Klavier] spielt Werke von Isang Yun,
Henri Dutilleux, Eres Holz und Franz Schubert

Eine Kooperation von drj art projects und INTERNATIONALE ISANG YUN GESELLSCHAFT

Installation von Oliver Siebeck · Kuratiert von Christiane Bail · Produziert von Matthias Seidel



___DE [EN below]___


Oliver Siebeck : Isang Yun – sesshafte und nichtsesshafte Buchstaben vielleicht

Wenn Oliver Siebeck mit einer Arbeit beginnt, steht am Anfang eine Faszination. Für ein Ding – eine Skulptur beispielsweise – für eine Situation – das Geräusch eines Insekts beim Fliegen etwa – oder, sehr oft, für eine Person – wie Isang Yun. Dann legt sich Siebeck das Handwerkszeug zurecht, mit dem er diese Arbeit erzeugen wird. Papier von der und der Struktur in dem und dem Format. Farben, wenige, hier Schwarz und Gold. Und, zentral, das Instrument. Sein Kunsterzeugungsinstrument. Die alte schwere mechanische Schreibmaschine.

Das Material, aus dem die Arbeit systematisch hergestellt wird, wird dem Gegenstand selbst entnommen. Bei der vorliegenden Arbeit sind es die im westlichen Alphabet, in der gebräuchlichsten Umschrift für das koreanische Alphabet, auch in der westlichen Reihenfolge, Vorname zuerst, aufgeschriebenen Buchstaben. Die Zeichen, die den Namen des Komponisten bedeuten und verlauten, von dem die Faszination, und damit diese Arbeit, ausging: ISANGYUN. Großbuchstaben. Systematisch eine beibehaltene Stellung der Schlagmechanik seiner Schreibmaschine also. Ganz einfach. Und genauso einfach, mit verdichtetem systematischen Variationsrepertoire, werden die Blätter bezeichnet. Reihung und Rotation, Reihung und Umkehr, Reihung und Krebs. Einfache bis mehrfache Wiederholungen. Überschreibungen von Überschreibungen. Sesshafte und nichtsesshafte Buchstaben vielleicht. Manche liegen auf der Seite, manche stehen auf dem Kopf.

Es ist nicht notwendig, etwas über Isang Yun zu wissen, um von Siebecks Blättern fasziniert zu sein und in ihnen je eigene Bedeutungssterne aufblitzen zu lassen. Sogar akustische, der sichtbar gewordene Schreibmaschinensound auf dem Papier. Tak-Taktak-Tak. Die teilweise regelrechte Lesbarkeit der Blätter. Oder prozessuale, wie das genüsslich allmähliche Aufgehen des goldenen Verstehens- und Sehenshorizonts beim sich Verdichten der Zeichen aus allen Himmelsrichtungen.

Je nachdem, wie vertraut man mit der Arbeit und dem Leben des Isang Yun ist, ist es natürlich nicht verboten und vermutlich in diesem Sinnzusammenhang auch nicht zu vermeiden, wenn man Hinweise auf Isang Yuns Leben oder Werk in Siebecks Arbeit sieht. Der Autor dieser Zeilen weiß zum Beispiel, dass es Stücke von Isang Yun gibt, in deren ersten paar Takten schon das gesamte Klangmaterial, mit dem das Stück arbeiten wird, vorgestellt wird. Genauso ist es hier bei Siebeck. Wenn man das Material und die Systematik verstanden hat, weiß man ungefähr, wie es weitergehen wird. Erleben will man es dann natürlich trotzdem noch; – oder jetzt erst recht.

Die vorliegenden Blätter mit den sesshaften und nichtsesshaften Buchstaben sind nicht die erste Arbeit von Oliver Siebeck mit dem Gegenstand Isang Yun. 2018 entstand seine Isang Yun Biografie. Hierbei waren das Zeichenmaterial für Siebecks Schreibmaschine die Ziffern der Lebensdaten von Isang Yun – 17. 9. 1917 bis 3.11.1995 – die Siebeck, im bekannten Zeichenformat und der bekannten Fortsetzungsregel folgend, Tag für Tag hintereinander auf eine ca. 20 Meter lange Papierrolle geschlagen hat. Einmal, in einem 40 Zeichen breiten schwarzen Streifen vorwärts, und einmal in einem 40 Zeichen breiten roten Streifen rückwärts.

Diese beiden nebeneinander laufenden Lebensdatenbahnen in rot und in schwarz variieren leicht in Anschlag und Farbkraft, und sie bewegen sich aufeinander zu und voneinander weg. In einer sehr dramatischen, spannungsgeladenen Passage dieser Schriftrolle überschreiben sich die beiden Bahnen an ihren Rändern. Berühren sich. Schreiben sich ineinander ein. Eine Sehnsucht. Ein Verlangen, dem man Himmelrichtungen zuschreiben kann, an deren Vereinigung Isang Yun ein Leben lang arbeitete, und einer Trennung, die sein Schicksal war.

Thomas Goldstrasz, Chemnitz 5.9.2022

Kursiv: Satzmaterial von Oliver Siebeck aus der Korrespondenz zu den vorliegenden Blättern. Eine Dokumentation der Isang Yun Biografie (2018) findet sich unter www.siebeckprojekte.de

___EN___

Oliver Siebeck : Isang Yun — settled and unsettled letters

A piece by Oliver Siebeck begins with a fascination. For a thing—a sculpture, for example—for a situation—like the sound of an insect in flight—or, quite often, for a person, like Isang Yun. Then Siebeck prepares the tools with which he will create this work. Paper, with such and such a structure in such and such a format. Colors, just a few, in this case black and gold. And at the center of it all, the instrument. His instrument of art creation. A heavy old mechanical typewriter.
The material from which the work is systematically produced is taken from the subject itself. In this case, it is the written letters of the western alphabet most commonly used to transcribe the letters of the Korean alphabet that spell his name, in the western order: first name first. The signs that signify and announce the name of the composer who inspired the fascination, and thus this work: ISANGYUN.
Capital letters. Systematically keeping the striking mechanism of his typewriter in a single position. Simple. And the sheets are named just as simply, with a condensed, systematic repertoire of variations. Sequence and Rotation. Sequence and Reversal. Sequence and Cancer. Simple or multiple repetitions. Overwritten overwritings. Settled and unsettled letters perhaps. Some lie on their sides, some stand on their heads.
It is not necessary to know anything about Isang Yun to be fascinated by Siebeck’s sheets, to see individual flashes of meaning in each one. Even acoustic ones: the sound of a typewriter made visible on paper. Tak-Taktak-Tak. The unexpected moments of legibility. Or processural meanings, like the gradual, pleasurable rising of the golden horizon of understanding and vision as the characters come together and consolidate from every cardinal direction.
Depending on one’s familiarity with the work and life of Isang Yun, one may detect references in Siebeck’s work—in fact this is probably unavoidable. The author of these lines knows, for example, that there are pieces by Isang Yun in which all of the sound material that will be used throughout the piece is introduced in the first few bars. Siebeck’s work here is similar. Once one has understood the material and the system, it is fairly clear what will follow. But one nonetheless wants to experience it—or perhaps the understanding is even what makes one want to experience it.
These sheets with their settled and unsettled letters are not the first work by Oliver Siebeck that takes Isang Yun as its subject. In 2018 he created Isang Yun Biografie. In this case, the raw material for Siebeck’s typewriter was the numbers of the dates of Isang Yun’s life—from 17.9.1917 to 3.11.1995. Siebeck typed these numbers in sequence, day by day, on a c. 20 meter long roll of paper: once in a 40-character-wide black stripe going forwards, once in a 40-character-wide red stripe going backwards.
The two neighboring paths of life dates in red and black vary slightly in force of stroke and intensity of color, and they move towards each other and away from each other. At one dramatic, suspenseful moment, the edges of the two paths overlap: touching, inscribing themselves into each other. A longing, a need—which one can attribute to the cardinal directions that Isang Yun worked all his life to unite, and whose separation was his destiny.

Thomas Goldstrasz, Chemnitz 5.9.2022

Text in italics is by Oliver Siebeck in correspondence regarding the work. Documentation of Isang Yun Biografie (2018) can be found at www.siebeckprojekte.de